Eisenach – Stadt der Schulabbrecher?

Eine Caritas-Studie bereitete im Juli 2019 deutschlandweite Daten über Schulabgänger ohne Schulabschluss auf und stellte diese in einer interaktiven Karte zur Verfügung. Die Süddeutsche Zeitung identifizierte daraufhin Eisenach als „Stadt der Schulabbrecher“ und beschert ihr überregionale Aufmerksamkeit. Nun will die Kommune die politisch aufgeladenen Zahlen und das Medienecho dafür nutzen, mit Netzwerkpartnern das zugrundeliegende Problem anzugehen.

Tina Schönberg und Juliane Kumst

Bildungsmonitorerin und Bildungsmanagerin der Stadt Eisenach

Schulabgänger ohne Abschluss sind nicht notwendig Schulabbrecher

Die Gleichsetzung von Schulabgängern ohne Abschluss mit Schulabbrechern, wie es im Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 22. November 2019, aber auch in der öffentlichen Debatte oft geschieht, trägt sicher ebenso viel Empörungspotential in sich, wie der Subtext des Artikels, dass in Eisenach über dieses Problem auf breiter Ebene geschwiegen würde.

Trotz zusätzlicher Fördermittel und Schulsozialarbeit stieg in den letzten Jahren der Anteil von Abgängern ohne Abschluss um 8 auf 18 Prozent. Die Frage nach dem Warum ist daher notwendig, wird aber im Artikel der Süddeutschen Zeitung polemisiert. Das Bild unmotivierter, absichtlich der Schule fernbleibender Schulabbrecher und folglich unwirksamer sozialpädagogischer Maßnahmen taugt für Schlagzeilen, Schuldzuweisungen und politischen Schlagabtausch. Einer sachlichen Diskussion dient es hingegen nicht. Dabei sind die statistischen Definitionen, Berechnungen und Zahlen viel differenzierter – und durchaus brauchbar.

Versachlichung der Diskussion durch das Bildungsmonitoring

Notwendig ist dafür zunächst eine nüchterne Betrachtung der vorliegenden und sich teils voneinander unterscheidenden Daten. So liegt der Stadt selbst ein Anteil von 16 Prozent und damit ein geringerer Wert vor. Die Mitarbeiterinnen der Stabstelle Soziale Stadt und die Bildungsmonitorerin Tina Schönberg vergleichen die eigenen Zahlen mit denen der Caritas-Studie, rekonstruieren die ihnen zugrundeliegenden Definitionen und stellen sie den Maßnahmen der letzten Jahre gegenüber.

Quelle: Statistikportal des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport; eigene Berechnung und Darstellung

Daraus ergibt sich ein differenziertes Bild vom Schulabgänger ohne Abschluss. Das entspricht nicht dem „Schulabbrecher“, der die Schule durch Absentismus beendet. Stattdessen erklärt Tina Schönberg, dass Schulabgänger ohne Abschluss in der Mehrzahl Jugendliche sind, die regulär die Förderschule beenden. Per Definition gilt das allerdings nicht als Schulabschluss.

Des Weiteren handelt es sich um Jugendliche, die die Hauptschule nach neun oder mehr Jahren ohne einen Abschluss verlassen müssen, weil sie (mehrfach) das Klassenziel der 9. Klasse nicht erreichten und die Schulpflicht nach Jahren oder Alter erfüllt haben. Nur bei einem kleinen Teil der Jugendlichen lässt sich tatsächlich von Schulverweigerung sprechen. Damit erregen sie größere Aufmerksamkeit. Daher erreicht ein Teil dieser Gruppe, wenn auch mit Verzögerung und unterstützt durch sozialpädagogische Maßnahmen, oft noch den Schulabschluss – im Unterschied zu jenen, die die Schule ohne Abschluss verlassen.

Weiterhin werden Schulabschlüsse über den Schulstandort erhoben. Liegt ein Förderschulzentrum in einer Stadt und kommen seine Schülerinnen und Schüler auch aus ihrem Umland, weist sie eine höhere Quote an Schulabgängern ohne Abschluss auf als Kommunen ohne Förderschule. Soziale Problemlagen, über die hitzig gestritten wird, tragen zu dieser Quote bei, erklären sie aber längst nicht alleine.

So einfach liegt die Sache in Eisenach natürlich nicht. Das wissen auch die Mitarbeiterinnen der Stabstelle Soziale Stadt. Dort geht niemand davon aus, dass es sich bei den Zahlen nur um statistische Artefakte handelt. Außerdem ist ein hoher Anteil an Förder- sowie Hauptschülerinnen und -schülern, die ohne Abschluss die Schule verlassen, ebenso erklärungsbedürftig.

Einbinden wichtiger Netzwerkpartner

Es geht dem Dezernenten und den Mitarbeiterinnen der Stabstelle also nicht darum, das Problem zu relativieren, sondern um eine realistische und detaillierte Problemwahrnehmung.  Wichtig ist es zu wissen, wer von Schulabgängen ohne Abschluss betroffen ist, welche soziodemografischen Merkmale auf diese Jugendlichen zutreffen und wo sie nach der Schule verbleiben. Darüber hinaus sind Ursachen aufzuklären, weshalb sich Abgänge ohne Abschluss an bestimmten Schulen häufen. Um entsprechende Einblicke zu erlangen, werden Gespräche mit Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrern, sowie Akteuren der Schulsozialarbeit geführt.

In der Stabstelle Soziale Stadt ist man also um Aufklärung und um Lösungen bemüht. Skandalisierungen indes führen nicht weiter, und auf die Schlagzeilen in der überregionalen Presse hätte Eisenach wie jede andere Stadt gerne verzichtet. Gleichwohl machen sie auf ein relevantes Problem aufmerksam sowie auf Klärungsbedarfe in einer politisierten Diskussion. Mit zeitlichem Abstand lässt sich gemeinsam mit Politik, Schulen und sozialpädagogischer Praxis an Lösungen arbeiten.

Die Stabstelle Soziale Stadt nutzt die bestehenden Netzwerkstrukturen, den Bildungsbericht und die Rückendeckung durch den Dezernenten

Wesentliche Grundlage dafür bietet der im September 2020 fertiggestellte Bildungsbericht  für die Stadt Eisenach. So gibt er beispielsweise detailliert darüber Auskunft, wie die Schülerschaft an Förderschulen zusammengesetzt ist. Seine Ergebnisse sowie die Planung von Maßnahmen werden jedoch nicht allein in der Stabstelle verhandelt und entschieden, sondern mit den etablierten Strukturen und Netzwerkpartnern gemeinsam besprochen und weiterentwickelt. Daran sind verschiedene Gremien beteiligt:

  • die Lenkungsgruppe Kommunales Bildungsmanagement
  • die Amtsleiterklausur
  • der Ausschuss für soziale Angelegenheiten, Bildung und Gesundheitswesen
  • die Steuerungsgruppe der Jugendberufsagentur
  • die Schulleiterberatung

Die von der Bildungsmonitorerin erstellte Zusammenfassung der Caritas-Studie steht den Mitgliedern dieser Gremien ebenso zur Verfügung wie die weitere Agenda:

  • die Auswertung weiterer Zahlen und Statistiken, die die vorliegenden Daten ergänzen und mögliche Zusammenhänge als Ursachen erkennen lassen
  • eine Verbleibstatistik, die darüber Auskunft gibt, in welchen Status die Schulabgänger ohne Abschluss münden
  • qualitative und quantitative Erhebungen von Schuldaten durch Experteninterviews (Schulleitungen und Schulsozialarbeit) sowie standardisierte Befragungen in Schulen
  • Gruppendiskussion mit Berufsorientierungslehrerinnen und -lehrern der Schulen

Die Befragung der Schulen sieht dabei mehrere Schritte vor und schließt die drei Regelschulen, die Gemeinschaftsschule sowie die Freie Waldorfschule ein. Die Befragung erfolgte bereits im Oktober und November 2020 mittels Fragebogen, der von den Schulleitungen, Klassenlehrerinnen und -lehrern, den Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern sowie den Lerncoaches ausgefüllt wurde. Dabei wurden Alter, Geschlecht und Herkunft der Jugendlichen, die Ursachen für das Nichterreichen des Abschlusses (Verweigerung, psychische Probleme, Probleme im Elternhaus, mit dem Lehrkörper, mit Mitschülerinnen und Mitschülern, Ängste, Drogenkonsum, Kriminalität) sowie ihr weiterer Werdegang erfasst.

Die Erhebung bezog sich auf 75 Fälle der Schuljahre 2017/18 und 2018/19 (Rücklauf: 56 Fragebögen). Die Förderschulen werden gesondert betrachtet, wobei Interviews mit den Schulleitungen und der Schulsozialarbeit geplant sind. Eine der Förderschulen verfügt zudem über eine detaillierte (anonymisierte) Totalerhebung des weiteren Werdegangs aller ihrer Schulabgänger. Dies geschieht im Rahmen des Qualitätssiegels „Berufswahlfreundliche Schule“. Dadurch kann der weitere Weg dieser Förderschulabsolventinnen und -absolventen lückenlos verfolgt werden.

Wie geht es weiter?

Inzwischen liegen alle Daten und Ergebnisse der Erhebungen in Form eines Berichtes vor, sodass schon bald  mit den Netzwerkpartnern über Ursachen und Lösungen beraten werden kann. Kurzfristige Lösungen erwartet niemand, wohl aber ein angemessenes Verständnis des Problems und seiner Ursachen als Grundlage für wirksame Maßnahmen.

Der oben zitierte Pressebericht war für viele engagierte Akteure aus Kommune und Schule ärgerlich. Gleichzeitig bestärkt er sie in ihrer Arbeit, indem er auf ein Problem aufmerksam machte, das es kontinuierlich zu bearbeiten gilt. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss in den kommenden Jahren zu senken, ist ihr erklärtes Ziel. Zusammen mit dem kommunalen Bildungsmanagement und -monitoring scheuen sie ein solches „heißes Eisen“ nicht, sondern schmieden Pläne, es zu erreichen.

Kontakt

Matthias Müller, Kommunalberatung Thüringen

Tel.: 0341-993923 12 E-Mail: mmueller@dji.de

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