Bildungsplanung als Teil eines großen Ganzen – integrierte Sozialraumplanung in Erfurt

Integrierte Sozialraumplanung und kommunales Bildungsmanagement haben einiges gemeinsam: Sie setzen auf ämterübergreifende Zusammenarbeit, haben die Bedürfnisse der Menschen vor Ort im Blick und arbeiten mit kleinräumige Datenanalysen. Gute Gründe beides zusammenzudenken. Wir sprachen mit Torsten Haß, Leiter der Volkshochschule und ehemaligem Sozialamtsleiter, über den Aufbau der integrierten Sozialraumplanung in Erfurt und die Rolle des Bildungsmanagements.

Torsten Haß, Leiter der Volkshochschule und ehemaliger Sozialamtsleiter der Stadt Erfurt

Erfurt hat mit dem Stadtratsbeschluss vom 21.07.2021 die Entwicklung einer integrierten Sozialraumplanung beschlossen, die schrittweise eingeführt und Mitte 2023 in einem integrierten Sozialraumplan münden soll. Warum braucht Erfurt eine integrierte Sozialraumplanung?

Der Entschluss, die integrierte Sozialraumplanung in Erfurt aufzubauen, fußt auf verschiedenen Dingen: Zum einen sind das die sozialen Problemlagen und ihre Ursachen. Die lassen sich nur verstehen, wenn wir uns den konkreten Lebenslagen der Menschen zuwenden und versuchen die Zusammenhänge zwischen Aspekten wie Arbeit, Wohnen, gesellschaftlicher Beteiligung, Gesundheit und Bildung besser zu verstehen.

Wir sprechen hier von ganz unterschiedlichen Problemen, die nur multiprofessionell bearbeitet werden können. Mit der integrierten Sozialraumplanung stellen wir zwischen den einzelnen Zuständigkeiten in der Verwaltung und den verschiedenen Planungen Synergien her, um die Problemlagen der Menschen in den Quartieren besser erfassen und angemessen darauf reagieren zu können. Davon versprechen wir uns auch zielgerichteter und gebündelt mit unseren finanziellen Ressourcen umzugehen. An dieser Stelle ist die integrierte Sozialraumplanung genau der richtige Schritt.

Zum anderen kam ein wichtiger Impuls von außen: Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin aus 2019 hat ergeben, dass Erfurt eine der am stärksten segregierten Städte Deutschlands ist. Aus unserer Planung wussten wir bereits, dass die Problemlagen in der Stadt sozialräumlich unterschiedlich verteilt sind. In den Plattenbaugebieten im Norden und Südosten haben wir z. B. hohe SGB II Quoten. Aber dieser Blick von außen und der Vergleich mit anderen Städten war nochmal sehr hilfreich und hat den Stadträten die Entscheidung für eine integrierte Sozialraumplanung leichter gemacht.

Wie wollen Sie die integrierte Sozialraumplanung konkret umsetzen und welche Schritte sind Sie schon gegangen?

Seit 2019 treffen sich unsere Planerinnen und Planer regelmäßig zu ämterübergreifenden Abstimmungsrunden. Das ist ein wichtiger Grundstein für die integrierte Sozialraumplanung. Denn wir haben hier in Erfurt eine gute Datengrundlage und viele verschiedene Berichte, die zusammen betrachtet werden sollten. Es gibt die jährlichen Haushaltsbefragungen, die Kinder- und Jugendbefragung, die Bildungsberichterstattung und die unterschiedlichen Fachplanungen.

Doch die verschiedenen Fachplanungen wurden in der Vergangenheit zu wenig zusammengedacht. Hier sind die gemeinsamen Planungsrunden ein guter Anfang. Ein wichtiges Produkt dieser Zusammenarbeit ist der Erfurter Sozialstrukturatlas von 2020. Sein Sozialindex gibt Aufschluss über die Verteilung von Problemen in den verschiedenen Planungsräumen. Er wird fortgeschrieben und fließt maßgeblich in den integrierten Sozialraumplan ein, der kommendes Jahr veröffentlicht wird.   

Ein weiteres wesentliches Element ist die Vernetzung von Steuerungs- und Entscheidungsstrukturen. Dafür haben wir den Beirat für integrierte Sozialraumplanung gegründet. Er setzt sich zusammen aus Verwaltungsmitgliedern aller Ebenen: aus Fachplanungen, der Wohnungswirtschaft, sozialen Trägern wie die Caritas und Diakonie oder das Jobcenter. Gemeinsam mit dem Beirat wurde z. B. aufgrund von Infra- und Sozialstrukturdaten entschieden, wo unser zweiter Standort für das Projekt „Thüringer Initiative für Integration, Nachhaltigkeit, Kooperation und Aktivierung (ThINKA)“ entsteht. So können wir gezielte Impulse für bestimmte Quartiere in Erfurt setzen.    

Im nächsten Schritt wollen wir die Bürgerinnen und Bürger stärker einbeziehen. Im Prozess der Erarbeitung des integrierten Sozialraumplans werden wir zunächst auf die 41 Ortsteilbürgermeister/innen und die jeweiligen Ortsteilräte zugegangen. Diese werden in den Entstehungsprozess mehr oder minder eingebunden. Das sind die Personen, mit denen wir unsere Anliegen gemeinsam in die Gebiete tragen wollen.

Diese Brücke in die Quartiere werden wir nutzen, um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen und sie stärker in die Planung einzubinden. Im Plattenbaugebiet Moskauer Platz, wo ich selbst Ortsteilbürgermeister bin, passiert das schon. Auf diese Weise wurde beispielsweise die angrenzende Gera-Aue begrünt und neue Spielplätze geschaffen, um die Grenzen zwischen dem Plattenbaugebiet und den umliegenden Ortschaften aufzuweichen und junge Menschen in die Wohngebiete rund um den Moskauer Platz zu ziehen.

Im nächsten Jahr wollen wir diesen Effekt mit dem Bau von Kindergärten und Schulen weiter verstärken. Im Vergleich zu Quartieren mit ähnlichen Herausforderungen sehen wir hier deutlich positive Entwicklungen.

Zwischen integrierter Sozialraumplanung und kommunalem Bildungsmanagement gibt es einige Gemeinsamkeiten. Ich denke hier an die Bedarfsorientierung oder den Ansatz mit integrierten Konzepten einer Vereinzelung von Angeboten und der Versäulung von Zuständigkeiten entgegenzuwirken. Die Stadt Erfurt blickt auf eine lange Geschichte im Bildungsmanagement zurück. Wie bringen Sie diese Erfahrungen in die integrierte Sozialraumplanung ein?

Im Bereich der Planung machen wir das durch unseren Bildungsmonitorer, den wir nach „Lernen vor Ort“ verstetigen konnten. Er ist jetzt zweiter Sozialplaner und war maßgeblich an der Erarbeitung des Sozialstrukturatlas beteiligt. Wir hatten unsere Bildungsberichte 2012 und 2014 mit guten Maßnahmeplänen. Hier konnten wir starke Segregationstendenzen bei den Übergängen in die weiterführenden Schulen feststellen.

Unser Ziel war es, dass die Schulen, die bei der Schulwahl eher gemieden wurden, wieder attraktiv werden. Das wird jetzt aufgegriffen und in der Sozialraumplanung nochmal weitergedacht. Wenn wir hier Maßnahmen in den Quartieren umsetzen, dann wollen wir das wieder rückkoppeln mit der Bildungsplanung und genauer schauen, ob sich Effekte einstellen. Hier hilft unser erfahrener Planer, der als Bildungsmonitorer und Sozialplaner auf die Dinge schaut.

Außerdem haben wir in „Lernen vor Ort“ in einzelnen Quartieren Lern- und Bildungsorte eingerichtet. Dafür sind wir damals ganz gezielt in Bezirke mit sozialen Problemlagen gegangen. In Erfurt-Nord wurde z. B. das Mehrgenerationenhaus angesiedelt und dort die Volkshochschule platziert. Beratungs- und Hilfsangebote sowie das Kinder- und Jugendhaus sind in der Nähe untergebracht.

Im Süd-Osten haben wir im Teilhabezentrum Außenstellen der Musikschule, Bibliothek und Volkshochschule angesiedelt. In Erfurt gibt es eine lange Tradition im Quartiersmanagement, die heute vieles leichter macht. Personen aus Politik und Verwaltungsleitung wissen längst, dass man mit kleinräumigen Projekten, die direkt vor Ort ansetzen, etwas bewegen kann. Und diese erfolgreichen Projekte lassen sich dann womöglich auf andere Quartiere übertragen. Dieser Blick auf den Sozialraum ist hier schon tief verankert und darauf können wir aufbauen.

Auf der anderen Seite gibt uns die integrierte Sozialraumplanung wichtige Impulse im Bildungsmanagement. Hier waren wir immer stark auf die Perspektive der Anbietenden fokussiert. Wir schauten also aus Sicht der Stadtverwaltung oder der Träger, welche Angebote brauchen die Menschen. Die integrierte Sozialraumplanung weist uns deutlich auf die Perspektive der Abnehmenden hin, also auf die Frage, wie sich der Zugang zu den Angeboten verbessern lässt.

In Erfurt gibt es beispielweise viele Personen, die wir mit Teilhabeleistungen unterstützen. Und die melden uns zurück, dass sie die Bildungsangebote nur nutzen können, wenn sie durch Begleitpersonen oder Fahrtangebote dazu in die Lage versetzt werden. Und das führt uns noch einmal deutlich vor Augen, dass Bildungsmanagement eben nicht nur die zielgerichtete Bereitstellung von Bildungsangeboten ist, sondern auch den Zugang zu diesen Angeboten im Blick haben muss, der für viele Menschen eben nicht selbstverständlich möglich ist.

Zum Abschluss Ihr Blick in die Zukunft: Wie sieht die integrierte Sozialraumplanung in Erfurt in zehn Jahren aus?

Grundsätzlich glaube ich, dass die Fachplanungen auch in Zukunft bestehen werden. Sie werden aber eher in den Hintergrund treten und andere Ergebnisse hervorbringen, weil sie eben nicht mehr für sich alleine stehen. Die integrierte Sozialraumplanung wird dafür sorgen, dass Fachplanungen anders laufen als heute. Es wird vielmehr um die Dynamik und das Wechselspiel zwischen den verschiedenen Planungen gehen. Und durch dieses übereinander nachdenken und miteinander auf vielen Ebenen in Verbindung treten, wird sich auch die Qualität der einzelnen Planungen erhöhen.

Außerdem haben wir im Oktober eine Kooperationsvereinbarung mit der Stadt Wien unterschrieben. Wir wollen voneinander lernen, einzelnen Herausforderungen besser zu begegnen. Insbesondere im Bereich der vergleichsweise höheren Quote von Menschen mit Migrationsgeschichte in Wien können wir von der Stadt Erfurt uns etwas abschauen.

Aber nicht nur das: Denn trotz großer Herausforderungen im Bildungsbereich ist Wien eine der Städte mit der höchsten Lebenszufriedenheit. Mit diesem Austausch wollen wir mehr darüber erfahren, wie sich mit kommunalem Einsatz Bildung so gestalten lässt, dass sich soziale Problemlagen abbauen, um Quartiere und sogar die ganze Stadt positiv zu verändern.

Das ist für mich die spannendste Geschichte: Wie bringen wir das Planen und Denken im Kleinen, also auf Ebene der Quartiere, und im Großen, im Sinne der Stadtentwicklung, zusammen? Wie konzentrieren wir uns nicht nur auf die eine Ebene, also denken im Entweder-oder, sondern bringen beides gewinnbringend zusammen? Wir versuchen das hier in Erfurt umzusetzen. Und ich bin sehr gespannt, wie weit wir da in 20 Jahren sind, wenn ich in Rente gehe.

Kontakt

Das Interview führte Michael Brock, Kommunalberatung Thüringen.

Tel.: 0341-99392315 E-Mail: E-Mail: brock@dji.de

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