Weinheimer Initiative stellt Genderfrage am Übergang in den Beruf

Am 27.11.2019 und 28.11.2019 veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft „Weinheimer Initiative“ zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI) ihr Jahresforum in der Leopoldina in Halle. Unter dem Titel „Übergänge in die Arbeitswelt, die Genderfrage – kein Thema mehr?“ diskutierten Fachpersonen aus Wissenschaft, Kommunalverwaltung und der Bildungslandschaft über aktuelle Aspekte geschlechtsspezifischer Ungleichheiten am Übergang von der Schule in den Beruf. 

Spielt das Geschlecht bei der Berufswahl eine Rolle?

Prof. Dr. Birigit Reißig, Leiterin der Außenstelle Halle des Deutschen Jugendinstitutes, zeigt in ihrem Vortrag Unterschiede in den Übergangswegen von Hauptschülerinnen und -schülern auf.

Ist Gender kein Thema mehr? Haben sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern soweit angeglichen, dass die Thematisierung von geschlechterbedingten Ungleichheiten fast schon rückwärtsgewandt wirkt? Ganz im Gegenteil, meint Dr. Wilfried Kruse von der Arbeits­gemeinschaft „Weinheimer Initiative“ bei seiner Begrüßung. Von einer schwindenden Bedeutung der Genderaspekte im Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf könne nicht die Rede sein.

Noch immer sei die duale Berufsausbildung männlich strukturiert und Übergangschancen eng verknüpft mit Geschlechterfragen. Allerdings stellen diese Herausforderungen in der kommunalen Gestaltung des Übergangsgeschehens kein explizites Handlungsfeld dar oder werden systematisch als Querschnittsaufgabe in den Blick genommen, betont Wilfried Kruse. Der Titel des Jahresforums kann so als eindringliche Erinnerung gelesen werden, geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Übergang nicht aus dem Blick des kommunalpolitischen Handelns zu verlieren.

Vorträge und Facharbeitsgruppen

In drei einführenden Vorträgen stellen die Referierenden die Bedeutung der Geschlechts­zugehörigkeit für den Übergang von der Schule in die Ausbildung und für das spätere Berufsleben deutlich heraus. Prof. Birgit Reißig vom Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI) zeigt zunächst, dass die beruflichen Vorstellungen und Übergangswege von Hauptschülerinnen und Hauptschülern sich entlang der Geschlechterzugehörigkeit unterscheiden.

Während junge Männer vornehmlich handwerkliche Berufe anstreben und dafür eine duale Ausbildung aufnehmen, entscheiden sich junge Frauen eher für Sozial- und Gesundheitsberufe. Sie bleiben auch länger in schulischen Bildungsgängen, um damit ihre Chancen auf einen erfolgreichen Übergang zu verbessern.

Die Auswirkungen geschlechtstypischer Verläufe von Berufsbiografien auf den Verdienst von Frauen und Männern beleuchtet Dr. Christina Boll vom DJI. Die Lebenseinkommenslücke (Gender Lifetime Earnings Gap) zwischen den Geschlechtern sei gewaltig: Frauen haben ein um 47% geringeres Gesamterwerbseinkommen im Lebensverlauf als Männer. Familienbedingte Auszeiten, wie sie für weibliche Biografien typisch sind, haben hierbei einen großen Effekt.

Doch auch zwischen durchgängig vollzeitbeschäftigten Frauen und Männern sind die Einkommensunterschiede weiterhin beträchtlich. Stefanie Jansen, Dezernentin für Jugend und Soziales des Rhein-Neckar-Kreises, weist darauf hin, dass trotz jahrzehntelanger Förderung von Frauen in Baden-Württemberg ihr Gesamtanteil in der Verwaltung zwar 70% beträgt, in Führungspositionen seien es dagegen nur 20%.   

In den nun folgenden Facharbeitsgruppen werden die Einblicke auf die praktische Ebene der kommunalen Koordinierung im Übergang Schule-Beruf übertragen. Bei der anschließenden Vorstellung der Gruppenarbeitsergebnisse wird u. a. deutlich, dass sich beim Abbau von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten im Übergang auch die Schulen, Betriebe und Verwaltungen verändern müssen.

Wie so ein Wandel eingeleitet werden kann, zeigt Sharon Orias vom „Beruflichen Qualifizierungsnetzwerk Berlin“ (BQN-Berlin). Sie berichtet, wie sie im Rahmen des vom Berliner Senat initiierten Projektes „Berlin braucht dich!“ Betriebe bei der Entwicklung von gendersensiblen Bewerbungs- und Einstellungsverfahren unterstützt.

Auch in Schulen sind die Mitarbeitenden von „Berlin braucht dich!“ aktiv, qualifizieren Lehrkräfte und organisieren unterschiedliche Angebote der Berufsorientierung für Schüler/innen. Das Dach des Projektes bildet ein Netzwerk aus Schulen, Ausbildungsbetrieben, Personen unterschiedlicher Senatsverwaltungen, der Bundesagentur für Arbeit und Trägern von Beratungsstellen. Das Netzwerk und seine Aktivitäten werden dabei vom BQN-Berlin moderiert und gesteuert.  

Genderfragen auch in Halle ein Thema

Am zweiten Tag richtet sich der Fokus auf die gastgebende Stadt Halle (Saale). Katharina Brederlow, Dezernentin für Bildung und Soziales der Stadt Halle (Saale) erläutert den Teilnehmenden, dass Berufsorientierung und die Gestaltung eines gelingenden Überganges wichtige Themen des städtischen Bildungskonzepts sind. Gerade junge Männer hätten aktuell Schwierigkeiten bei der Entwicklung beruflicher Perspektiven. Beim Nachdenken über kommunalpolitische Strategien und unterstützende Maßnahmen müsse immer die Biografie der jungen Menschen im Mittelpunkt stehen, betont Katharina Brederlow weiter.

Einblicke in die Situation der Jugendlichen vor Ort gibt Dr. Frank Tillmann vom DJI anhand der halleschen Kinder- und Jugendstudie 2018. Die Befunde zeigen, dass Jugendliche die Breite der Berufsorientierungsangebote kaum kennen. Außerdem richten sie sich nicht ausreichend an den Bedarfen der jungen Menschen aus. Angebote zur beruflichen Orientierung müssten sich in der Folge stärker biografischen und lebensweltlichen Gesichtspunkten zuwenden und die Neigungen der Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken, fordert Frank Tillmann.        

Genderfragen und Kommunale Koordinierung - Wie geht's weiter?

Die hier aufgeführten Beiträge geben nur einen kleinen Einblick in die große Breite der inhaltlichen Impulse, die die Teilnehmenden an den beiden Tagen des Fachforums aufnehmen konnten. In der abschließenden Gesprächsrunde diskutierten Akteure aus Verwaltung und Jugendarbeit, wie sie diese Anregungen in der praktischen Arbeit vor Ort und bei der Gestaltung von Bildungslandschaften aufgreifen können.

Die Diskutierenden sind sich einig, dass alle Akteure der Bildungslandschaft sensibel dafür sein müssen, dass sich soziale Ungleichheit auch und noch immer anhand von Fragen der Geschlechtszugehörigkeit strukturiert. Daraus erwächst die Aufgabe, Genderaspekte als wichtigen Orientierungspunkt in die tägliche Arbeit aufzunehmen.

Wie die verschiedenen Vorträge und Diskussionen zeigen, ist die Rolle von Genderaspekten nur im Zusammenhang mit anderen Faktoren und in einer biografisch-individuellen Perspektive wie soziale Herkunft oder Migrationshintergrund zu verstehen. Um nicht an den Betroffenen vorbeizuhandeln, muss deshalb der Dialog mit der Zielgruppe gesucht und institutionalisiert werden. Da die Jugend(sozial)arbeit in engem Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehe, können Träger und Akteure aus diesen Bereichen wichtige Anregungen für Verwaltungen geben.

Am Ende erinnert Heiner Bernhard, Oberbürgermeister a. D. von Weinheim und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Weinheimer Initiative“, daran, dass die kommunale Koordinierung von Bildungslandschaften in ihrer ganzen Breite schwer umzusetzen sei. Man könne sich nur Stück für Stück voran arbeiten. Kommunale Koordinierung ist ein Prozess, bei dem Geschlechter­fragen nun wieder stärker ins Bewusstsein der verantwortlichen Personen gerückt sind.  

Kontakt

Michael Brock, Kommunalberatung Thüringen

Tel.: 0341-99392315 E-Mail: brock@dji.de